Cancel culture der Mitte gegen Sigmund Jähn

Das Planetarium in Halle hieß bis zu seiner Schließung nach Hochwasser-Schäden aus dem Jahr 2013 und dem Abriss ab 2018 Raumflug-Planetarium ‚Sigmund Jähn‘. Sein Neubau soll nun ohne den Namen des ersten Deutschen im All auskommen. In Halle/Saale wird derzeit noch darüber gestritten. Seit heute setzt sich auch eine Petition für den bisherigen Namengeber ein.

Sigmund Jähn

Sigmund Jähn, 1978 (Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-T0709-148, Peter Koard, CC-BY-SA)

Sigmund Jähn (1937-2019) wurde als Sägearbeitersohn Held der Sowjetunion, wie es Charlie Keller in einem Retro-Lied besingt. Nach der Volksschule ging er in eine Buchdruckerlehre, wechselte danach aber zu einer Pilotenlaufbahn in die NVA, machte sein Abitur nach, studierte in Moskau, und wurde stellvertretender Ausbildungsleiter der Luftstreitkräfte der DDR. Der Diplom-Militärwissenschaftler und Oberstleutnant nahm ab 1976 am Interkosmos-Programm der Sowjetunion teil. Am 26. August 1978 flog er zusammen mit Waleri Bykowski zur sowjetischen Raumstation Saljut 6, wo er sieben Tage und 125 Erdumkreisungen lang blieb und eine Reihe von wissenschaftlichen Experimenten durchführte.

Der Raumflug und die Vorreiterrolle Jähns als erster deutscher Kosmonaut wurden von der DDR in einer aufwändigen Medienkampagne gezielt begleitet. Später meinte Jähn dazu:

„Die Jubelberichterstattung war aber keine Musik in meinen Ohren, zum Volkshelden wollte ich mich nicht machen lassen. (…) Im Rampenlicht zu stehen fand ich anstrengender als die Reise ins All.“

Nachweis bei Wikipedia


Nach dem Raumflug wurde er zum Oberst befördert und erst zum stellvertretenden Leiter, ab 1979 zum Leiter des Zentrums für Kosmische Ausbildung, der er bis 1990 blieb. 1983 promovierte er über Fernerkundung der Erde zum Dr. rer. nat. Später wurde Jähn Berater der ESA im russischen Raumfahrtzentrum bei Moskau.

Der Westdeutsche Ulf Merbold war 1983 der zweite Deutsche im All. Er setzte sich bei der ESA für Jähns Beraterfunktion ein. Der deutsche Astronaut Alexander Gerst nahm 2014 ein Bild von Bykowski und Jähn auf die ISS mit und schickte ein Foto davon an Jähn. Bisher waren elf Deutsche im All.

Die Extremismustheorie

Der theoretische Hintergrund dieser Debatte ist die bundesdeutsche Staatsideologie, die Extremismustheorie. [1, 2, 3]. Ihr zufolge sind der deutsche Faschismus unter Hitler sowie Rechtextreme und die sozialistische DDR sowie Linksextreme einander ähnlich. Dieser blinde, faktenfreie Antikommunismus fußt auf der kapitalistischen Grundverfasstheit der Bundesrepublik Deutschland.

Daraus resultiert eine „Cancel culture“ eigener Art, die nicht „von unten“ kommt und sich gegen Herrschaft auflehnt, sondern die „von oben“ in der Tradition der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts das Gewesene selektiv löscht oder umschreibt, um den eigenen Herrschaftsanspruch zu legitimieren und um sich gegen Alternativentwürfe zu immunisieren.

Zugleich steht sie als implizite Rechtfertigung der bürgerlichen Mitte in der Tradition der hegelianischen Geschichtsauffassung, wonach mit der liberalen Gesellschaft das „Ende der Geschichte“, d.h. der geschichtlichen Entwicklung, erreicht sei. Diese gehe von Stammesgesellschaften, über feudale und monarchische Staatsformen bis hin zur liberalen Demokratie nach westlichem Muster als einer nicht weiter verbesserungsfähigen Gesellschaftsform.

Entfernung aus der Öffentlichkeit

Wird Konrad Zuse, der Erfinder des ersten Computers, nicht mehr erwähnt, weil er für die Wehrmacht computergestützte Flugbahnberechnungen von Lenkbomben anstellte, die der Hitler-Diktatur im Zweiten Weltkrieg halfen? Offenbar nicht. Das historische Verdienst steht über dem historisch-zufälligen Fakt, „zur falschen Zeit am falschen Ort“ gelebt und gearbeitet zu haben.

Aber Sigmund Jähn ist der Berliner Republik ein Dorn im Auge. Er ist eine bleibende Erinnerung daran, dass der alte Systemkonkurrent DDR nicht so rückständig war, wie es die westdeutsche und neue bundesdeutsche Erzählweise immer wieder vermitteln möchte.

Es geht nicht um gleiche Extremismen, sondern um ungleiche Wirtschaftsgrundlagen. Darum ist die Hitler-Diktatur für Deutschland nicht so staatsgefährdend wie die DDR. Hitler und das deutsche Großkapital haben eng miteinander kooperiert. Die DDR hat das Großkapital abgeschafft. Darum ist es für die heute Regierenden nötig, alle positiven Erinnerungen an die DDR aus der Öffentlichkeit zu tilgen.

Politische Mythen sind empfindlich. Der öffentlich sichtbare Namenszug „Sigmund Jähn“ an einem öffentlichen Anziehungspunkt wie einem Planetarium würde den Mythos von der eindeutigen Überlegenheit des westdeutschen Kapitalismus beständig in Frage stellen.

Würdigung und Kritik von Sigmund Jähn und seiner Rolle in der DDR fänden in einem Raumfahrt-Planetarium, das insbesondere auch ein Bildungsort für Schulkinder wäre, einen angemessenen Ort. Die Namen-Gegner möchten die Öffentlichkeit aber wohl lieber nicht mit Fakten, Für-und-Wider und Diskussionsangeboten konfrontieren. „Ignorance is bliss“ heißt es in „Die Matrix“, „Selig sind die Dummen“ sagt der Volksmund.


Update, 26.02.2021: CDU, Grünen und AfD stimmen für die Benennung des neuen Planetariums als „Planetarium Halle“. Die Linke, SPD und die Fraktion „Mitbürger & Die PARTEI“ stimmten dagegen.